Text
Ernst Pöppel
Lektorat
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Review
Hartmut Graßl
Illustration
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2040 – Wir haben schon viel erreicht
Der römische Philosoph und Politiker Cicero hat einmal gesagt: „Die Gewohnheit ist sozusagen eine zweite Natur (consuetudo est quasi altera natura)“. Auf die Wissenschaft angewandt heißt das: Sich an den eingefahrenen Fortgang der wissenschaftlichen Arbeit gewöhnt zu haben, das führt auch zu Erfolgen. Es müssen nicht immer Revolutionen sein, die den wissenschaftlichen Fortschritt kennzeichnen – auch kleine Schritte zählen. Wissenschaftler:innen fällt es jedoch auch heute noch außerordentlich schwer, einer Forderung von Karl Popper nachzukommen, die unter dem Falsifikationsprinzip bekannt geworden ist.
Das Falsifikationsprinzip besagt: „Wann immer wir glauben, die Lösung eines Problems gefunden zu haben, sollten wir unsere Lösung nicht verteidigen, sondern mit allen Mitteln versuchen, sie selbst zu stürzen.“Popper, K. R. & Walentik, L. (1973) Logik der Forschung / von Karl R. Popper. [Vom Verf. autoris. Übers. aus dem Engl.: Leonhard Walentik]. 5. Aufl., Nachdr. der 4., verb. Aufl. Tübingen: Mohr..
Doch, wer kann das schon, das beglückende Gefühl einer Erkenntnis oder den positiven Ausgang eines Experiments gleich wieder in Frage zu stellen?
Goethe bemerkte in seinen Maximen und Reflexionen: „Jeder, der eine Zeitlang auf dem redlichen Forschen verharrt, muss seine Methode irgendeinmal umändern.“Goethe, J. W. (1833). Maximen und Reflexionen. In fünf Abtheilungen. In: Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Band 49. J. G. Cotta’sche Buchhandlung, Stuttgart/Tübingen, S. 21–131.. Doch warum sollten wir bewährte Methoden über Bord werfen? Schließlich schreiten wir gleichsam auf der Grundlage einer inneren Notwendigkeit mit den einmal mit Anstrengung erworbenen Methoden voran. Wir können uns nicht immer in Frage stellen, wir haben uns an die Regelmäßigkeit unseres Forschens gewöhnt. Dies hat sich oft bewährt.
Natürlich findet unsere Forschung in einem geistigen Rahmen statt, den Carl Friedrich von Weizsäcker 1947 in Studium Generale einmal so gekennzeichnet hatWeizsäcker, C. F. (1947). Das Experiment. Studium Generale, 1(1), S. 3-9. (Englisch 1950).: „Das Experiment ist Ausübung von Macht im Dienste der Erkenntnis“, auch wenn dies uns nicht jeden Augenblick bewusst sein muss, so wenig wie dies Wort von Immanuel Kant: „Soviel Wahrheit ist in einer Wissenschaft, als Mathematik in ihr ist.“Kant, I. (1781). Critik der reinen Vernunft. Riga.. Wir akzeptieren dies intuitiv, vor allem wenn wir keine Mathematiker:innen sind.
Diese wissenschaftliche Praktik hat sich zwar in den letzten Jahrzehnten bewährt, aber sie steht auch vor großen Herausforderungen. Es hat sich leider immer mehr ein „Silodenken“ durchgesetzt; die einzelnen Bereiche in der Wissenschaft schotten sich ab
Im Bereich der Forschung zum anthropogenen Klimawandel und der Biodiversität ist das letzte Jahrzehnt durch Interdisziplinarität und sogar Transdisziplinarität gekennzeichnet; Silodenken ist in diesem Bereich über alle Disziplinen hinweg „out“. Leider hat sich dies nicht in allen Bereichen durchgesetzt.
Es ist eine Sprachlosigkeit über die Disziplingrenzen hinweg entstanden. Das jeweils andere Fachgebiet wird nicht ernst genommen. Sogenannte Expert:innen werden medial vorgeführt und spielen oft eine Rolle, die über ihre Kompetenz hinaus gehen.
Hier ist eine These des Schriftstellers Joseph Conrad hilfreich, der in seinem Werk „Über mich selbst“ schreibt: „Wer zu überreden sucht, sollte sein Vertrauen nicht auf das durchschlagende Argument setzen, sondern auf das treffende Wort. Die Macht des Schalles ist stets größer gewesen als die Macht der Vernunft.“Conrad, J. & Danehl, G. (1965) Über mich selbst : einige Erinnerungen / Joseph Conrad. [Dt. von G. Danehl]. Frankfurt, Main: Fischer..
Dies hat dazu beigetragen, dass das Vertrauen der Gesellschaft in die Wissenschaft in Teilen verloren ging. Gleichzeitig verlagerte sich die Forschung zunehmend aus Universitäten in industrielle Strukturen. Politische Randbedingungen schränkten die Wahl relevanter Themen ein – insbesondere, wenn potenzielle „Dual-Use“-Anwendungen (militärische Nutzbarkeit) vermutet wurden. Viele Forschende haben den Mut verloren, ungewöhnliche Fragestellungen zu verfolgen, für die eine Finanzierung schwieriger geworden ist. Zudem fehlen unabhängige Förderinstitutionen, die bedingungslose Forschungsfreiheit garantieren.
Diese Methodeneinengung in manchen Disziplinen hat den wissenschaftlichen Fortschritt gehemmt.
Die Maßnahmen, welche uns auf den Weg brachten
Wie konnte es zu dieser Situation kommen? Retrospektive Kausalanalysen sind genauso problematisch und unzuverlässig wie prospektive Hoffnungsszenarien. Komplexe Systeme lassen sich nicht monokausal erklären; weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft. Wissenschaft ist ein hochdynamisches System mit vielen interagierenden Faktoren – persönlicher, sozialer, medialer und politischer Natur. Die Wechselwirkungen zwischen diesen Ebenen sind oft unklar. Die einzelnen Disziplinen sind und waren überfordert, um miteinander ins Gespräch zu kommen.
Die Schwierigkeiten für die heutige missliche Situation ergaben sich unter anderem dadurch, dass der Modellbegriff, wie ihn der Logiker Rudolf Carnap bestimmt hat und wie er für jede wissenschaftliche Tätigkeit wesentlich ist, nicht ernst genommen wurdeCarnap, R. (1998) Der logische Aufbau der Welt. 1st edition. Hamburg: F. Meiner.. Dies sind typische Kennzeichen von „Modellen“, wie sie sich für die wissenschaftliche Arbeit immer als nützlich erwiesen hatten, und was im Grunde als Denkformen Selbstverständlichkeiten sind:
Modelle müssen exakt sein, und natürlich exakter als das, was sie erklären sollen; hier gilt ein Wort des Philosophen Ludwig Wittgenstein aus dem Tractatus Logico-PhilosophicusWittgenstein, L. (1995) Tractatus logico-philosophicus / Ludwig Wittgenstein. Paperback ed., reprint. London, Routledge, Satz 4.116: „Alles was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles was sich aussprechen lässt, lässt sich klar aussprechen“ Wittgenstein, L. (1995) Tractatus logico-philosophicus / Ludwig Wittgenstein. Paperback ed., reprint. London, Routledge.. Modelle sollen einfach sein, aber natürlich nicht zu einfach, was heisst, dass sie von Beobachtungen abstrahieren.
Dies bedeutet, dass mit dem Abstraktionsprozess immer auch etwas verloren geht, wobei man nicht genau angeben kann, was der Verlust war; er könnte auch sehr wichtig gewesen sein; dieses Missverständnis hatte zu Einseitigkeiten in der Forschung geführt; andere mögliche und vielleicht kreativere Abstraktionswege sind vernachlässigt worden.
Des Weiteren müssen Modelle fruchtbar sein; sie sollten sich prognostisch bewährt haben, was insbesondere für die Technikfolgenabschätzung wichtig wäre.
Schließlich sollten Modelle ähnlich sein zu dem, was modelliert wurde.
Diese Forderung nach Ähnlichkeit ist besonders problematisch, weil das zu modellierende System in seiner Komplexität nicht durchschaubar ist; hier gerät man in einen logischen Zirkel, indem das, was man modellieren möchte, schon vorausgesetzt wird.
All diese Forderungen wurden nicht bedacht, sodass die Forschung in Sackgassen geraten ist, und dass Fortschritte nur in sehr eingeschränkten Bereichen möglich wurden.
Ein grundsätzliches Missverständnis zeigte sich auch darin, wie Forschung überhaupt geschieht. Man hätte sich an Worte des Physikers Ernst Mach erinnern sollen, der in seinem Buch „Prinzipien der Wärmelehre“Mach, E. (1896). Die Prinzipien der Wärmelehre. 1. Auflage. J. A. Barth, Leipzig., geschrieben hat: „Wer sich mit Forschung beschäftigt hat, wird schwerlich glauben, dass Entdeckungen nach dem Schema der Induktion zu Stande kommen. Die Tatsachen, deren Erkenntnis eine Entdeckung vorstellt, werden vielmehr erschaut. Alle Naturwissenschaft beginnt mit intuitiven Erkenntnissen.“Mach, E. (1896). Die Prinzipien der Wärmelehre. 1. Auflage. J. A. Barth, Leipzig..
Um aber überhaupt zur Forschung zu kommen, müssen Fragen formuliert werden. Probleme können nicht gelöst werden, bis sie nicht entdeckt sind. Zuerst kommen Fragen, wie sie dann in explorativer Forschung verfolgt werden. Daraus entstehen Hypothesen, die dann in konfirmatorischer Forschung überprüft werden.
Dieser kreative Erkenntnisprozess wurde in vielen Bereichen vernachlässigt, wodurch Innovation und wissenschaftlicher Fortschritt eingeschränkt wurden.


